Über die Liebe als Geisteskrankheit

Miniatur Herr Engelhardt von Adelnburg
Die Liebe bedeutet letztlich für den von ihr Befallenen nur grässliche Schmerzen.

Von allen Geistesleiden ist die Liebe — nicht zu verwechseln mit der Wollust — die wohl schrecklichste. Dabei äußert sich die Liebe ursprünglich nicht als Krankheit, doch sie entwickelt sich alsbald zu einer solchen, und ihre schweren wie weitreichenden Folgen sind nicht zu unterschätzen.
Leider ist in der reichen Geschichte der Medizin noch kein probates Mittel gegen diese fürchterliche Heimsuchung gefunden worden. Im Gegenteil — Generation um Generation fällt dieser Seuche aufs Neue zum Opfer und sinkt dahin wie Korn vor dem Schnitter. Kein Lebensalter scheint gewappnet zu sein gegen ihre fatale Infektion, selbst hinfällige Greise zeigen sich empfänglich und befeuern den Verfall von Körper und Geist umso scheußlicher.

Symptomatik

Es ist vollkommen unerheblich, ob es den Betroffenen zu einem köstlichen Weibe oder einem holden Knaben hinzieht. Über die moralischen Betrachtungen sei hier geschwiegen, denn die Moral ist dem Wandel der Zeit unterworfen. Allein die medizinischen Fakten sind es nicht, und selbige manifestieren sich grauenhaft genug:

Anfangs scheint der der Jüngling beim Anblick der Geliebten zwar zu erblühen, doch allzu bald wandelt sich sein Bild. Durch Erfüllung wie auch Versagen des scheinbaren Glückes werden Verheerungen angerichtet, die man ansonsten nur von der Auszehrung kannte. Bald schwindet des Befallenen Sehkraft, und seine Lippen werden runzelig. Male erscheinen in seinem Gesicht, die an die Bisse eines Hundes erinnern, und sein restliches Leben streicht er des Nachts auf Friedhöfen oder in der Kanalisation herum.

Radierung nach Leonardo da Vinci
Abb.1: Das Gehirn eines typischen Verliebten.
Unglücklicherweise zeigt sich der Verliebte keineswegs einsichtig über seinen schrecklichen Zustand — ein Symptom, welches dem Wahnsinn nicht unähnlich ist. Auch bei räumlicher Separation kreisen seine Gedanken tags wie nachts um den Gegenstand der Begierde wie der Geier um das Aas. Dabei ist seine Wahrnehmung stets dergestalt vernebelt, dass er ihm die himmlischsten Eigenschaften andichtet und von jeden noch so erbärmlichen Misslichkeiten, die dem ungetrübten Auge sofort auffallen müssen, nachsieht.
Zugleich zeigt sich der Krankheitsverlauf in jedem Falle stets denkbar ungünstig: Wird er dem Objekt seines Sehnens teilhaftig, so schleicht sich mit der Zeit die Ernüchterung ein. Die zuvor erwähnten, zugedichteten Eigenschaften entschwinden, der Glanz erlischt und weicht einem veränderten, jedoch nicht minder getrübten Blick. Nur zu oft hinterlässt der verglommene Liebesrausch in seinem Gewitterschatten ausgelaugte, verwüstete Nervernbahnen, die, falls sie je wieder zu einer Lebensregung imstande sehen, sich nun in Gefühlen Verachtung, ebenso blindem Hass und Zorn ergehen und die allgemeine Zerrüttung zu ihrem grausamen Ende treiben.
Muss der Liebende jedoch jedem Objekt unausgesetzt entraten, ergeht es ihm nicht besser. Ohne die harte Belehrung durch die Wirklichkeit taumelt er weiter durch die beträubenden Nebel seiner Verwirrungen, gibt sich hoffnungslos der Hoffnung hin, bis er sich schließlich in einem Erdloch verkriecht, wo er zusammengekrümmt lechzend dahinstirbt.

Holzschnitt eines enttäuschten Liebenden
Auch nach den heftigsten Liebesaufwallungen stellt sich nur zu bald unweigerlich die Ernüchterung ein.
Erhebt die Vernunft den Menschen zumindest theoretisch über das Tier, so ist es umso beklagenswerter, dass die Liebe die Vernunft in gleichen Maßen abzutöten trachtet wie das grässlichste der unter den Wissenschaften bekannten Nervengifte. Selbst den besten, wohlmeinenden Ratschlägen der Mitmenschen ist der Liebende nicht empfänglich, von etwaiger Befähigung zur Selbsterkenntnis ganz zu schweigen. So reitet er blindwütig in sein Unglück, richtet sich zugrunde und reißt nicht selten andere Menschen, die er mit seinem narrenhaften Betragen ohnehin schon genug abstößt, mit in sein düsteres Verderben.

Heilung

Nachdem wir nun zu der niederschmetternden Erkenntnis gelangt sind, dass die Liebe ihre verderbliche Axt an die Wurzel des Menschenseins, namentlich die Vernunft legt, müssen wir unseren Studenten zu unserem Bedauern eröffnen, dass der Abschnitt über die Kurvorschrift ein überaus kurzer sein wird. Wie soll man auch arme Naturen kurieren können, welche sich gegenüber Segnungen der Medizin, wenn nicht heftig oder bestimmt, so doch mit einer solchen Beharrlichkeit verschanzt zeigen, dass kein noch so eifriger Medicus gegen sie erfolgversprechend vorgehen kann. Selbst die gewissenhafteste pharmazeutische Forschung hat es bislang nicht vermocht, ein wirksames Gegenmittel zu finden. Kalte Bäder, Schröpfköpfe, karge Kost, Schlangenöl, lange Spaziergänge — nichts will fruchten gegen diese Unbill.

Widerstrebt es auch zutiefst, diese unsere Hilflosigkeit einzugestehen, möchten wir endlich feststellen, dass nur geraten werden, den Kopf einzuziehen und inständig zu hoffen, der Sturm vorüberbrausen möge, ohne allzu tödliche Schäden zu hinterlassen.

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